Mit Kira Muratova und Márta Mészáros erhalten heuer ausnahmsweise gleich zwei schon zu Lebzeiten legendäre Protagonistinnen des zentral- und osteuropäischen Filmschaffens einen Lifetime Achievement Award des LET’S CEE Film Festivals 2018. Die Begründung für die doppelte Vergabe an zwei Frauen in diesem Jahr ist einfach: 2016 wurde dieser Preis gar nicht vergeben, eine doppelte Vergabe anno 2018 erscheint daher überfällig und mehr als berechtigt. Und dass es endlich einmal zwei großartige Frauen trifft, hat denselben Grund: Mit Turhan Bey, Branko Lustig, István Szabó, Béla Tarr und Želimir Žilnik wurden bislang fünf großartige Männer ausgezeichnet.
Márta Mészáros und Kira Muratova also. Unterschiede zwischen den beiden gibt es viele, Parallelen sonder Zahl leichwohl auch. Beide haben ein fürwahr überaus bewegtes Leben mit vielen privaten und beruflichen Höhen, aber auch Tiefen hinter sich. Beide waren ihr Leben lang Außenseiterinnen. Beide haben eine sehr eigenwillige, wenngleich natürlich zudem echt unterschiedliche Filmsprache entwickelt – und eben diese gegen viele Widerstände höchst erfolgreich realisiert. Beide haben sich oft und mit Nachdruck frauenzentrischen Themen gewidmet, und zwar anders als Regisseurinnen im Westen das seinerzeit üblicherweise getan haben. Und beide, das sei als geschichtliche Randbemerkung ebenfalls vermerkt, haben zum Beispiel etwa an derselben Hochschule in Moskau ihr Handwerk erlernt.
Kira Muratova
Kira Muratova wurde 1935 im damaligen Rumänien und heutigen Moldawien geboren. Die wohl immer noch berühmteste ukrainische Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin gilt als die wohl bedeutendste Filmemacherin der Sowjetunion und wahrscheinlich auch als die wichtigste lebende Vertreterin des russischsprachigen Films. Studiert hat sie unter anderem beim legendären Sergei Gerasimov im Moskau und gearbeitet hat sie später zumeist in Odessa, im dortigen berühmten Filmstudio. Weit über 20 Jahre lang konnte sie ihre Ideen nur mehr oder weniger uneingeschränkt verwirklichen, obwohl sie damals die längste Zeit eigentlich keine politische Filmemacherin war. Aufhalten hat sie sich davon freilich nicht lassen. Erst nach der Wende wurde sie dann für ihr unglaubliches Durchhaltevermögen und ihr einmaliges Talent auch belohnt, respektive mit Preisen förmlich überhäuft. Im Westen und in Russland, erstaunlicherweise. Und das, obwohl sich ihr sehr eigenwilliger, manieristischer, ja oft bizarr anmutender, durch eine konstruktivistische und radikale Sicht geprägter künstlerischer Stil kaum in institutionelle Filmtraditionen einordnen lässt. Mit dem Meisterwerk The Asthenic Syndrome (Astenicheskiy sindrom), das LET’S CEE anlässlich ihrer Ehrung zeigt, fand Muratova seinerzeit endgültig zu jener Art von Filmsprache, für die sie heute berühmt ist. Obwohl im Mittelpunkt ihrer Filme sehr oft Heldinnen stehen, wollte sie ihr Werk nie als feministisch bezeichnet sehen – jedenfalls ganz sicher nicht in dem Sinne, in dem der Begriff des Feminismus im Westen verstanden wird.
Márta Mészáros
Auch Márta Mészáros galt im Westen immer als Vorzeigefeministin. Und auch sie hatte und hat mit dieser Bezeichnung keine Freude. Die Grande Dame des ungarischen Films gilt seit Jahrzehnten als eine der wichtigsten Regisseurinnen Europas. Sie wurde 1931 in Budapest geboren und verbrachte einen großen Teil ihrer Kindheit und ihre Studienzeit in Moskau, und eben an derselben Hochschule wie Muratova. Nicht weniger bemerkenswert: Trotz ihres Alters ist sie immer noch aktiv. Mit Aurora Borealis: Northern Light(Aurora Borealis: Északi fény), zeigt LET’S CEE anlässlich ihrer Auszeichnung einen großartigen Film den sie erst letztes Jahr, mit 86 Jahren, abgedreht hat. Mészáros war die erste Frau, die in Ungarn einen Spielfilm realisierte und damit eine dezidiert weibliche Sicht in das (ost)europäische Filmschaffen einbrachte, sowie auch die erste, die in Berlin einen Goldenen Bären gewinnen konnte – für Adoption(Örökbefogadás). Die Verarbeitung von dokumentarischem Material findet sich in ihrem Werk ebenso immer wieder als Stilelement wie die von autobiografischen Details, etwa bei ihrer berühmten Tagebuch-Trilogie. Abgesehen davon stehen auch im Zentrum ihrer vielfach preisgekrönten Spielfilme fast immer komplexe Themen wie die Genderfrage und Sexualität, Gesellschaft und Identität. All dem näherte sie sich früh, direkt und kritisch – aber auf eine andere Art und Weise als praktisch all ihre Kolleginnen im Westen. Womit auch sie als unfeministische Feministin zu bezeichnen ist, wenn überhaupt.
Last not least: Eine weitere Parallele zwischen den beiden großen Filmemacherinnen hat sich übrigens erst im letzten Jahr aufgetan. Da wurden nämlich sowohl Mészáros als auch Muratova von der amerikanischen Academy of Motion Picture Arts and Sciences in den Kreis jener Filmschaffenden aufgenommen, die über die Vergabe der Oscars bestimmen. Dass sich die Akademie erst so spät zu diesem Schritt entschlossen hat, gereicht ihr nicht wirklich zur Ehre. Dass man sich der beiden anno 2017 sogar in Hollywood erinnerte, den beiden mittlerweile hochbetagten Damen allerdings schon.